Notizen als Lichtungen. Über den Genuss am Steindrucken: Dieses Besessensein.

Madonna dunkel, 1950
Madonna dunkel, 1950
WVZ L 35, Lithografie
II. Zustand des zweiten Steins
Drucker: Horst Arloth, Weimar
Lindenau-Museum Altenburg

Stein – tief einst in den Brüchen schlummernd – nun Träger und Bewahrer katzenpfotensamtner Verdichtungen und schwebender Helle, kratzender Linien und schwingender Stege, struktureller Ballungen, netzartiger Gewebe. Dieser Stein ist eine Sprache, erahnbar im Hinhören auf die verborgene Stimme, die zur Artikulation gelangen möchte, in den verschwiegenen, bedachtsamen Gedanken über der glatten Fläche, aus den Spuren von nutzlosen Wegen wachsen und Stimmen von einer Welt des Unsichtbaren weben. Versuche im Ertasten und im langsamen Erkennen.
Es geht darum, dieses beinahe stumme Dämmern zu entbinden und in eine Schwingung zu überführen, Noten zu setzen. Nur wer unmittelbar diese fast erotische Berührung (es ist wie eine Hochzeit) mit dem Stein sucht, wird diese geflüsterte Sprache verstehen. Zeichen einer Übereinstimmung und eines Hinneigens zu dem Grund jahrtausendelangen Wachstums. Da kommen sie alle gekrochen, die Gestalten, sie wachsen in den Linien und aus ihnen hervor und sind dann im Nu zu Gestalten des Ichs geworden, geboren aus dem Unterbewußten, hervorgezaubert auf die Fläche und über sie hinaus.
Da ist der Geruch der Säure, der Farben, der Metallnestoren; da sind die Manipulationen einer handwerksmäßigen Arbeit und die dem inneren Gesicht gemäße ruhige Erregtheit einer Werkstatt mit der Patina altschwerfälliger, brüderliche Beziehungen zulassender Maschinen. All dies läßt die Schichten des Bewußtseins mürbe werden, der Werkstattrausch überkommt mit seiner verhaltenen Neugier und seinem süchtigen Angezogensein von den Möglichkeiten und Imponderabilien den Adepten. Auf diesen Fluten eines Druckfiebers schwimmt er dahin, zwischen den Abstürzen in Wellentäler und den beseligenden Ausblicken von den Flutkämmen in die Schwärze eines nächtlichen, farblosen Raumes.
Und da ist der fast wortlose Dialog mit dem Freund und Drucker, der weiß, ohne daß ihm etwas gesagt wurde, und ohne dessen Gemeinschaft und ohne dessen Hilfe einer schöpferischen Neugier das Werk nicht aus der Fläche heraus Wirklichkeit würde: eine Landschaft feiner Differenzierungen, Hügel in der Schichtung erfahrener Tiefen, Gestalten psychischer Gänge. Unendlichkeit in der Endlichkeit. Der Traum einer Lithographie weiß aus weiß. Die Spannung zwischen dem Inferno der Psyche und einem Verlöschen in Arkadien. Heraufbeschworen durch einen Schleier von Entsetzen und Entzücken, von Verdammnis, Verfemung und Lust.

Gerhard Altenbourg, Braugartenweg im Februar 1968

In: Die Lithografie. Katalog zur Ausstellung vom 15. Juni bis 6. Juli 1968 im Kunstkabinett am Institut für Lehrerweiterbildung, Berlin-Pankow.
Lothar Lang hatte das Kunstkabinett 1962 gegründet und gab hier bis zur Schließung 1968 Künstlern und Schriftstellern ein Podium.

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