Über dem Strom ein Gezweig
DIE BEGEGNUNG
eines Malers mit einem Dichter hat Gestalt gefunden. Altenbourg reflektiert über die Lyrik Bobrowskis, über zehn Gedichte aus dem Band „Sarmatische Zeit" (1961). Es handelt sich nicht um Illustrationen. Bobrowskis Gedichte, reich an ungekannten Tiefen wie an lichten, doch schwierig faßbaren Gedanken, gesättigt vom Strom sich verknüpfender, einander überlagernder und sich durchdringender Bilder, stark in den rasch wechselnden Gegensätzen, unverbraucht und schön im herben Klang der Sprache, weisen einen Illustrator ab, sind dem Zeichner, der sie „veranschaulichen“ wollte, ein unüberwindliches Hindernis. Altenbourg, der Schwierigkeiten bewußt, hat die Gedichte zum Gegenstande seiner Meditationen und Reflexionen gemacht. Ausgangspunkt war zuweilen ein Gedicht als Ganzes, gelegentlich aber auch nur ein Teil aus dem Geflecht der Sprachbilder. Der Zeichner, die Intention einer konkreten Textstelle aufnehmend, spürte dem Geist nach, der hinter und zwischen den Worten wohnt, lauschte der Klangfarbe der Vokale, spürte die Tempi des Sprachflusses, drang in den Kontext. Das Unwägbare der Sprache findet sich wieder als Imponderabilie der Linie und des Tones.
Strom und Strömen in der Welt des Dichters, als Motiv wie als sprachlich-gestalterisches Element, wurden dem Zeichner zu einem Prinzip, das er aufnimmt und weiterträgt, aus dem er bildet. Die Findungen auf dem Stein und im Holz zeigen Altenbourg im Vollbesitze seiner Mittel. Zwischen der Reinheit des Weiß und dem Unbedingten des Schwarz steht das Dämmern des Grau, eine Welt für sich; auch im Holz. Ein vegetabiles oder organoides Element in Altenbourgs Kunst tritt deutlich zutage; der Hang zur floralen Arabeske, der äußerlich eine schöpferische Affinität zum Jugendstil deutlich macht, äußert sich nicht nur im linearen Stil, sondern im „Wachsenden“ und „Treibenden“ der gesamten Bildstruktur. Gewiß, hier ist das freie Spiel der Phantasie am Werke, doch umkreist es das Wort des Dichters, entfernt sich nicht, sondern nähert sich dem Zentrum jener Lyrik. Die Verantwortung des Zeichners gegenüber dem Dichter äußert sich aber auch in der Distanz, die hier Nähe und inneres Einverständnis bedeutet. So bleiben die Blätter Altenbourgs zwar immer Bobrowski verpflichtet, führen aber ein Eigenleben, sind eine Welt für sich. Aus ihr spricht die Phantasiekraft eines Künstlers, dessen feine Humanität ein Gefühl der Verantwortung und des Glücks in unsere Tage trägt.
Diese Arbeit, von der Auswahl der Gedichte bis zur Bindung der Mappe Altenbourgs ureigenstes Werk, geht auf ein Gespräch zurück, das ich mit dem Künstler am 8. Mai 1967 in Freienbrink führte. Er hat meinen Vorschlag, die Gedichte Johannes Bobrowskis zum Ausgangspunkt eines eigenen Werke zu nehmen, mit Freude angenommen und in den folgenden beiden Jahren unermüdlich verwirklicht. Die Fülle gestalterischer Einfälle, die Tiefe der gedanklichen Kraft und Besessenheit im Handwerklichen trieben den Künstler zu immer neuen, umfassenderen Lösungen. Das beglückende Endresultat liegt nun vor uns. Mit Freude sei es den Sammlern der Kunst Gerhard Altenbourgs übergeben.
Lothar Lang
Begleittext zur Mappe "Über dem Strom ein Gezweig", 11. Druck der Kabinettpresse Berlin, Mappe mit sechs Holzschnitten und sechs Lithografien zu Gedichten von Johannes Bobrowski.
Herausgegeben 1969 von Lothar Lang im Auftrag der Freunde Gerhard Altenbourgs.
Das Lindenau-Museum Altenburg besitzt die Nr. 5 von zehn Vorzugsausgaben.
Das kupferne Relief auf dem Mappendeckel diente als Vorbild für das Logo der Gerhard Altenbourg Gesellschaft