Gerhard Altenbourg
Gerhard Altenbourg ist einer der bedeutenden Zeichner der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
Man hat ihn einen phantastischen Realisten genannt. In seiner Liebe zu der Landschaft, in der er lebte und die er ins Poetische steigerte, mit Figurationen verband, vergeistigte zu Kopflandschaften und in Bildtitel fasste wie „Versunken im Ich-Gestein“, „Durchwebt vom Flug der Zeit“, „Hügelland im Hin- und Widerspiel“, ist er dem von ihm verehrten Werner Heldt verwandt, der Berlin am Meer ansiedelte – hauptstädtisch-urbane Entsprechung zu dem Thüringer „Lauschenden auf blauer Au“. Dies Gedicht von Theodor Däubler war für Altenbourg ein Schlüsseltext, der Künstler war dem Dichter nahe in „Trauer und Überfallensein“. In Abständen entstanden riesige Zeichnungen, tragische Grotesken, stets „Gänge unter die Haut“, „Tatauierte Litaneien“.
Aus dem Zwiegespräch mit der klassischen Moderne und der Kunst seiner Zeitgenossen, mit Literatur, Philosophie, Psychologie, Geschichte und Naturwissenschaften und einer merkwürdig zeitlosen Wahrnehmung der Realität entwickelte er eine ganz eigenständige, in einer poetischen, ironischen Zwischenwelt angesiedelte Formensprache. Er war ein Solitär. Und einer der wenigen Künstler, die es vermochten, der Ausklammerung des individuellen Kriegserlebnisses und der Tabuisierung der psychischen Wunden von Siebzehn- bis Zwanzigjährigen in Ost und West zu widerstehen.
„Ich lebe über mich selbst gebeugt. Ich bin der andere“, schrieb Blaise Cendrars. Gerhard Altenbourg hatte einen Kreis um sich gezogen – aus seinem Fenster am Rande der Stadt blickte er in die Welt.
Das über tausendjährige und im Krieg unzerstörte Altenburg, einst europäisch orientiert, hatte glanzvolle Epochen erlebt, die in der Großzügigkeit seiner mittelalterlichen Strukturen wie der späteren Bauten noch heute ablesbar sind. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts druckten Brockhaus und Pierer in Altenburg Universallexika, auch in den folgenden Jahrzehnten bestimmten Politiker, Natur- und Sprachforscher, Kunstsammler von Rang den Geist des Ortes. Die frühitalienischen Tafelbilder und die schwarz- und rotfigurigen antiken Keramiken des Lindenau-Museums hinterließen in Gerhard Altenbourgs Werk Spuren, die in der Art des Farbauftrags bei den Mischtechniken wie der Komposition insbesondere der mehrfigurigen Blätter offenbar werden. Schon in den fünfziger Jahren erwarb man hier Arbeiten des jungen Künstlers und richtete ihm die erste Museumsausstellung ein. In den achtziger Jahren näherte sich das Museum Altenbourg wieder an, zahlreiche Erwerbungen, Ausstellungen und Publikationen seiner Werke folgten seither. Seit 1998 verleiht das Lindenau-Museum zudem alle zwei Jahre einen Preis mit dem Namen des Künstlers.
Gerhard Altenbourg wurde 1926 in Schnepfenthal-Rödichen geboren, in Thüringen, nahe Gotha, und lebte seit früher Kindheit in der seit den 1970er Jahren verfallenden „Kreisstadt A.“ (Wolfgang Hilbig). Wohl kannte er die nahe sächsische Industrielandschaft, aber die landschaftlichen „Wege wurzelentlang“ ging er in Thüringen; die künstlerischen sind weit verzweigt und ins Offene gerichtet. Immer wieder gab es äußere Einschnitte, in denen er sich noch stärker zurückzog als ohnehin: 1961, im Jahr, das die Kunstreisen unterband, doch hatte er, als die Mauer errichtet wurde, seine künstlerischen Entscheidungen schon getroffen, 1964, als er juristischen Repressalien ausgesetzt war, und 1968: „Der Lügenbau stürzt zusammen. Möglichst weit ausweichen, in die Tradition, in die Fremdheit, ins Übernatürliche, um nicht getroffen zu werden.“ Es gab außergewöhnliche öffentliche Anerkennungen wie die Teilnahme an der documenta 1959 und 1977, wichtige Einzelausstellungen und das von Annegret Janda erarbeitete und bei Brusberg erschienene „Werk-Verzeichnis“ von 1969, den Band „Ich-Gestein“ von 1971, den Ankauf durch das Museum of Modern Art in New York sowie das Stipendium und schließlich die Mitgliedschaft in der Akademie der Künste Berlin (West) und die Aufnahme in die Künstlerliste des Instituts für moderne Kunst Nürnberg. All dies rief im eigenen Land zusätzliche Komplikationen hervor.
Ein Hauptwerk des Künstlers, das in seinem Kontrast von offener, kraftvoller wie behutsamer Strichführung und den in mehrfachen Schichten feinst getüpfelten und gestrichelten Farbflächen charakteristisch für die sechziger und frühen siebziger Jahre im Werk ist, trägt den Titel „Unverwehet“. Mit diesem Wort, das Altenbourg im „Messias“ von Klopstock las, kam plötzlich, sagte er im Gespräch mit Friedhelm Mennekes, „etwas Neues auf, so daß es mich ergriff, daß es außer dem ständig Vergehenden und sich Erneuernden etwas gibt, was „unverwehet" ist. […] Wenn ich zeichne, trete ich aus der Zeit heraus. Ich beginne, mich in der wahren Zeit zu befinden, denn ich trete in ein Kontinuum ein, und zwar in ein Kontinuum derer, die vor mir waren und sich vor mir verwirklicht haben. Ich lebe ganz stark in einem Kontinuum im Geist der Ergebnisse der vor uns liegenden Jahrtausende. Ich sehe, daß wie über einen Hügel hinweg ständig ein Geist sozusagen dem anderen zuwinkt und daß einer dem anderen Verstehen entgegenbringt.“ – Das muss bedacht werden beim Betrachten der Hügel und der von Pappeln umsäumten Weiher auf den Zeichnungen und Druckgraphiken. Und der Figuren und Figürchen, den tragischen wie den in subtiler Heiterkeit Erotisches feiernden.
Gerhard Altenbourg blieb in Altenburg – aus freier Entscheidung, denn der Weg zum Verlassen des Landes war ihm und seiner Schwester bereitet worden. Der Entschluss ignorierte die politische Gegenwart, er galt der Enklave in der Thüringer Landschaft – und war gestützt durch Vertraute, die ihn durch Kataloge, Bücher, Gespräche und originale Kunstwerke über die künstlerische Gegenwart jenseits der engen Grenzen informierten.
Er zog dem Gewinn den Verzicht vor, wissend um die Wurzeln seiner Kunst. „Jede Mauer ist eine Pforte“, diesen Satz von Ralph Waldo Emerson zitierte Camus in seinem Essay „Der Künstler und seine Zeit“ und schrieb: „Die Wahrheit ist geheimnisvoll, ungreifbar, und muß stets neu erobert werden. Die Freiheit ist gefährlich, ihr zu leben ist ebenso hart wie berauschend.“
Zu seinem Gegenentwurf zählten die Gestaltung des Hauses und des Gartens, seine Kunstsammlung, der Ausbau der Bibliothek mit erlesenen Buchausgaben von Dichtern und Philosophen von der Antike bis zur Gegenwart, durch die er sich in der Gestaltung seiner Künstlerexistenz bestätigt fühlte.
1966 besuchten Gerhard Altenbourg und der Schweizer Künstler und Verleger Johannes Gachnang die Ausstellung „Deutsche Romantik“ in der Nationalgalerie Berlin (Ost). Später berichtete Gachnang, dass er dabei viel von dieser „anderen Ästhetik, die ebenfalls in Europa ihren Platz gesucht hat, aber immer noch im Schatten lag, nicht zuletzt durch die einseitige Interpretation der Romantik durch die Nationalsozialisten“ erfahren und zugleich verstanden habe, dass die „Form der Ästhetik“ seiner sächsischen Freunde Baselitz und Penck ihm näher stünde als jene, „die im Rheinland gepflegt und als international eingestuft wurde“. Er fand in der Ausstellung „das bessere Verständnis, woher diese Künstler eigentlich gekommen sind, und damit wurde auch mein Verständnis für eine andere Auffassung von Kultur geweckt“. Bezogen auf die Romantiker, vor allem auf Caspar David Friedrich, deren Kunst ihm bisher unter dem Eindruck der Impressionisten verborgen geblieben sei, konstatierte er: „Dieser Diskurs aus der Enge heraus, den wir Schweizer nur zu gut kennen, zeitigte trotzdem und trotz allem wichtige und bedeutende Bilder.“
Fünf Jahre nach diesem Ausstellungsbesuch schrieb Hans Kinkel über den Band „Ich-Gestein“ Gerhard Altenbourgs und darin über das Blatt „Caspar David gewidmet“: „Altenbourg ist sozusagen Surrealist wider Willen; seine späte, introvertierte Romantik sieht sich durch Melancholie und Skepsis gefiltert. Innen ist außen, und die Wahrheit hat ihr eigenes Gesicht. […] Das scheint der eigentliche, für alle imaginativen, stimmungshaften, intellektuellen und artistischen Facetten verbindliche Impuls dieses Zeichners von der ‚anderen Seite´ zu sein: auf der Suche nach etwas, die innere Freiheit zu bewahren.“
Immer wieder wird man die Erfahrung machen, dass der scheinbar hermetische Mikrokosmos der Werke Altenbourgs sich unversehens öffnet, Weite in sich birgt, Ambivalenz zum Draußen.
Dieses Draußen waren für Altenbourg auch Städte, die wichtigste wohl Berlin. Hier war Rudolf Springer Altenbourgs erster Galerist, bereits 1952 stellte er den jungen Künstler aus, später, als Dieter Brusberg, der Altenbourgs Arbeiten 1964 zum ersten Mal zeigte, aus Hannover nach Berlin gegangen war, gab es wieder einen das Leben betreffenden Bezugspunkt zu der Stadt. Nach Berlin reiste Altenbourg, um Kunst zu sehen oder zu Treffen mit Freunden, Kollegen. Bis 1961 hat er im Westteil der Stadt die europäische klassische Moderne und internationale zeitgenössische Kunst studieren können.
„Auf den Spuren der Berliner dada-Zeit“ hatte Altenbourg, fasziniert von dieser künstlerischen Revolte, die Ideologien, festgefügte Normen und Ideale ablehnte und absoluten Individualismus vertrat, in seiner Autobiographie geschrieben. Der Schweizer Johannes Gachnang führte den Bildteil des Kataloges seiner Berliner Ausstellung „Der gekrümmte Horizont“, in die er Altenbourg einbezog, mit einem Satz von Hugo Ball ein: „Das Bild unterscheidet uns. Im Bilde ergreifen wir. Was immer es sei – es ist Nacht –, wir halten den Abdruck in Händen.“ Der Satz stammt aus „Flucht aus der Zeit“, der Biographie des Dadaismus – 1927 in der Piererschen Hofbuchdruckerei zu Altenburg gedruckt.
Ein „Abdruck“ der Bilder Gerhard Altenbourgs liegt mit den zwischen 2004 und 2010 erschienen drei Bänden des von Annegret Janda und Gudrun Schmidt erarbeiteten Werkverzeichnisses vor uns.
Über die umfassendste Sammlung an Werken des Künstlers aus allen Schaffensphasen verfügt das Lindenau-Museum Altenburg, erweitert durch die Arbeiten der Stiftung Gerhard Altenbourg aus dem Nachlass. Hier lässt sich die die Komplexität des Werks wie das Verwobensein der Ausdrucksmittel, die Nähe von Wort und Bild studieren.
Zeichnungen und Mischtechniken, Druckgraphiken, Metallarbeiten (freie Plastiken, für die Ausgestaltung des Hauses oder Vorzugsausgaben von Graphikeditionen bestimmte Reliefs und Schmuckstücke), innen- und außenraumgestalterische Arbeiten sowie Künstlerbücher und Gedichte, Prosatexte, Briefe durchdringen sich zu einem subtilen Gesamtkunstwerk.
Jutta Penndorf, Auszüge einer Rede anlässlich der Präsentation von zwei Bänden des Werkverzeichnisses in der Kunstbibliothek der Staatlichen Museen zu Berlin 2007